#alpinnensichten

alpinnensichten
#alpinnensichten aus dem Alpsommer 2018, Alp Halten, Lauenen bei Gstaad // Photos by Annemarie Raemy

Jetzt ist wieder die Zeit, in der die Älplerinnen und Älpler auf den Berg ziehen. Einige sind schon oben, andere gehen noch. Und so verschieden jede Alp ist, allen gemeinsam ist eine Zeit in den Bergen, intensiv und streng, aber erfüllend. Was uns immer wieder erstaunt, ist die Ästhetik, welche dem Leben und Wirtschaften auf der Alp innewohnt. Ist es die Einfachheit, die Nähe zu Natur und Tieren, welche diese hervorruft? Oder werden wir durch die Reduktion auf das Wesentliche erst wieder empfänglich dafür?

Jedenfalls hat uns diese spezielle Ästhetik nicht nur zu unserer Ausstellung ALPSOMMER inspiriert, sondern uns auch dazu bewogen, ein neues, kleines {alpwerk}-Projekt zu lancieren. Wir möchten das Alpleben und dessen Vielfalt nicht aus der Aussenperspektive zeigen, sondern mit Eindrücken, die von innen kommen. Alpleben aus Sicht der Älplerinnen und Älpler. Bilder, Geschichten und Gedanken aus erster Hand, von den Sommerweiden. Innensichten, die das Leben und Arbeiten auf der Alp zeigen, direkt und ungefiltert. Mit dem Ziel, die Vielfalt dieser traditionellen Weidewirtschaft hoch oben in den Bergen zu zeigen – geografisch, aber auch bezüglich der Bewirtschaftung.

Diese #alpinnensichten möchten wir sammeln, mittels Tag, auf Instagram. Und wenn es gut kommt, entsteht nicht nur eine Sammlung von Bildern und Eindrücken von den verschiedensten Alpen, sondern auch ein Netzwerk von Menschen, die sich dieser halbnomadischen Lebensweise verschrieben haben.

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#alpinnensichten // PROJEKT
#alpinnensichten // Bildersammlung auf Instagram

Gedanken zur Zukunft der Spezies „Älpler“

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zwischen himmel und erde – Sujet aus der Ausstellung ALPSOMMER // dave gerber photography, 2015

Ein Alpaufzug ist etwas Kulturelles, Heimatverbundenes. Trotzdem gilt ein Älpler, wenn er nicht aus der Bauernzunft stammt, in der heutigen Konsumgesellschaft auch ein wenig als Aussteiger. Er steht gewissermassen in der Tradition der Anachoreten, die bereits in vorchristlicher Zeit in unwegsame Gebiete flüchteten, um der Besteuerung oder der Wehrpflicht zu entgehen.

In der Tat gleicht das Leben eines Älplers mit seinem eintönigen Rhythmus noch heute vielerorts demjenigen eines Eremiten in seiner Klause. Von den Zwängen und Unzulänglichkeiten der modernen Arbeitswelt entrückt, lebt der Älpler noch weitgehend stressfrei im Einklang mit der Natur. Das natürliche Wachstum der Vegetation, die Verdauung der Tiere und die Aktivität der Käsebakterien geben den Takt vor.

Trotzdem macht die Moderne auch vor der Alp nicht halt. Anspruchsvollere Tierrassen, komplexere Melksysteme und immer strengere Hygienevorschriften stören die vermeintliche Idylle des Älplers. Weideführung, Maschinenunterhalt und Formulare dringen in die stressfreie Zone des Sömmerungsgebiets vor und stellen immer höhere Anforderungen an das Alppersonal.

Umgekehrt steigen auch die Ansprüche der so genannten Aussteiger an die Alpinfrastruktur. Klein fliessendes Wasser in der Hütte ist schon fast undenkbar. Warmwasser und eine Dusche wären doch auch noch schön. Und der Strom für die unvermeidlichen elektronischen Geräte darf natürlich auch nicht fehlen. So arbeiten sich wirtschaftliche Modernisierung und individuelle Ansprüche wunderbar gegenseitig in die Hände.

Ein Blick in die Geschichte lehrt uns, dass die Alp zeitweise immer schon ein Rückzugsort für unbequeme Freigeister war. Die Frage stellt sich, wie es angesichts der geschilderten Entwicklungen um die Zukunft der Spezies „Älpler“ bestellt ist. Muss er wie der Bauer auch zum Landwirt und Unternehmer werden bzw. gar zum Käser oder Milchtechnologen? Oder gibt es auf der Alp weiterhin Raum für Aussteiger?

Die Antwort muss notgedrungen offen bleiben. Trotzdem ist und bleibt die Alp ein besonderer Ort, allen Alpstrassen, Bergrestaurants und Schneekanonen zum Trotz. Sie liegt an Grenzlage zum so genannt unproduktiven Gebiet und wird immer besondere kulturelle Pionierleistungen erfordern. Aufgrund der saisonalen Nutzung macht es zudem wenig Sinn, urbane Standards auf die Alp zu projizieren.

Vielleicht liegt die Hoffnung ja im Begriff „Pionier“. Pioniere gelten ja zugleich als Vordenker und als Unternehmer. So muss ein geographischer Rückzugsort nicht zwingend ein Rückzug in die Rückständigkeit sein. Vielmehr könnten Älpler neue Entwicklungen anstossen und Vorbilder für eine postmoderne Zukunft sein.

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Text: David Raemy, 2019